Russland und die Welt nach Putin?

Der Angriff Russlands auf die Ukraine wird mit Sicherheit eine Lawine von weiteren Ereignissen auslösen. Ihr Verlauf und ihre Richtung lassen sich heute nur schwerlich eindeutig vorhersagen. Die Szenarien, die jetzt entworfen werden, sind naturgemäß sehr unterschiedlich. Es werden immer mehr Ansätze verfolgt, solche Analysen und Szenarien zu entwerfen (z.B.: https://www.bbc.com/news/world-europe-60602936), denn es ist sicher, die Welt wird nicht so bleiben, wie sie war. Die dreißigjährige Ära, die durch den friedlichen Zerfall des Sowjetblocks und der Sowjetunion eingeleitet wurde, ist vorbei. Heute ist Russland mit seinen neoimperialen Ambitionen erstarrt und von Kriegskonvulsionen betroffen – so wie es in der Vergangenheit vielen Imperien ergangen ist.

Das apokalyptische Szenario ist ein Krieg in Europa oder sogar ein globaler Krieg – ein Dritter Weltkrieg – mit Atomwaffen. Das hätte unabsehbare Folgen für alle, aber vor allem Russland würde dabei wohl vernichtet werden. Einer der lautesten Vertreter des Kremls, Dmitri Kisseljow, hat gesagt, dass die Welt ohne Russland – und damit meint er das russische Imperium – keinen Sinn hat. Dies spiegelt den Gemütszustand eines Teils der russischen Elite wider, und der Gemütszustand des russischen Präsidenten Putin wird zum Gegenstand von Analyse und Besorgnis politischer Strategen.

Eine diplomatische Lösung wird angesichts der aktuellen Forderungen des Kremls immer unwahrscheinlicher. Tatsächlich verraten diese Forderungen sogar den Wunsch, nicht nur in der Ukraine, sondern generell gegen den Westen Krieg zu führen. Unabhängig davon, inwieweit sich Putin bei seinen Aggressions- und Expansionsplänen verkalkuliert hat, scheint er wie ein Pokerspieler vorzugehen, der die Einsätze erhöht, gerade weil er schwache Karten hat.

Eine russische Invasion kann sich auch zu einem langfristigen Konflikt entwickeln (Guerillakrieg usw.). Die Ukraine würde sich in eine Art zweites Afghanistan verwandeln mit tragischen Folgen für die ukrainische Gesellschaft (sie beginnt bereits, Syrien unter russischen Bomben zu ähneln). Andererseits kann man sich nicht vorstellen, dass Russland die Ukraine auf Dauer erfolgreich besetzen kann. Ihr Widerstand würde vom Westen unterstützt werden, was zu permanenten internationalen Spannungen führen würde. Es ist zu erwarten, dass ein blutiger militärischer Sieg Russlands in der ersten Phase in danach folgenden Phasen zu einer wachsenden und tiefen Krise innerhalb Russlands selbst führen könnte (und das heutige Russland ist im Verhältnis zum Westen viel schwächer als es die Sowjetunion war). Ein Atomkrieg läge beständig in der Luft.

Auch eine russische Niederlage in dem Konflikt ist möglich. Experten der US-Denkfabrik „Atlantic Council” haben ein solches Szenario als „Wunder am Dnjepr” bezeichnet (https://www.atlanticcouncil.org/blogs/new-atlanticist/four-ways-the-war-in-ukraine-might-end/). Dies würde aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Sturz Putins einhergehen. Es handelt sich hierbei um ein optimistisches Szenario (auch wenn man die sich bereits jetzt abzeichnende menschliche Tragödie in der Ukraine nicht vergessen darf), das die internationale Politik vor enorme Herausforderungen stellt. Dieses Szenario ist daher unbedingt eine Analyse wert, auch wenn wir uns heute in erster Linie auf den Verlauf der Aggression und auf die Hilfe für die Ukraine konzentrieren sollten.

Sollte Russland den gegenwärtigen Krieg verlieren, wird es wirtschaftlich, politisch und moralisch bankrott sein. Die erste Frage wird sein, ob es dem Reich gelingen wird, sein gesamtes Territorium zu halten, oder ob die Pseudoföderation, die es ist, zusammenbrechen wird. Die Ukraine könnte vielleicht den Donbas und vor allem die Krim zurückerobern. Das kann dann den Anstoß für den territorialen Zerfall des russischen Imperiums geben. Dies wird in erster Linie von den internen gesellschaftlichen Prozessen in Russland abhängen, sowohl auf der Ebene des gesamten Landes als auch in den einzelnen Regionen. Der Zerfall dieses territorialen Riesengebildes, das die Russische Föderation darstellt, würde die grundlegenden Koordinaten der Weltpolitik verändern, was Washington, Peking und Brüssel keineswegs gleichgültig sein kann.

Die Föderation wird, selbst wenn sie überlebt, ein geschwächter Staat sein und am Rande des Zusammenbruchs stehen. Es ist schwer vorstellbar, dass ihre neue Führung ebenso angriffslustig sein kann, wie es Putin jetzt ist. Eher zu erwarten wären dann Reform- und Demokratisierungsversuche, um damit eine Lockerung der westlichen Sanktionen zu bewirken (die große Frage für den Westen wird sein, wie lange die Sanktionen aufrechterhalten werden sollen und unter welchen Bedingungen sie ausgesetzt werden können, z. B. bei einer Denuklearisierung Russlands).

Es scheint jedoch, dass die Wahrung der territorialen Integrität nach einem verlorenen Krieg schwierig sein könnte. Der Zerfallsprozess kann nicht nur durch den Schock der Kriegsniederlage, sondern auch durch mögliche Reformversuche im Zusammenhang mit der erzwungenen Dezentralisierung ausgelöst werden.  Angesichts des Ausmaßes des wirtschaftlichen Zusammenbruchs wären die einzelnen Regionen und Makroregionen auf sich selbst gestellt und könnten sich nicht auf das Machtzentrum in Moskau verlassen. Neben dem wirtschaftlichen Faktor könnten auch Probleme der ethnischen Identität oder der geografischen Abgeschiedenheit eine wichtige Rolle spielen. Solche Fragen könnten sich beispielsweise in Tschetschenien, im Königsberger Gebiet (z.B. mit der Aussicht auf einen vierten baltischen Staat), in Jakutien als eigenständige politische Einheit oder auch in der Frage der Rückgabe der Kurilen stellen. Ähnliche Probleme würden die Wolga und viele andere Regionen, insbesondere Grenzregionen, betreffen. Der Ablauf eines solchen Prozesses mag als weit hergeholt erscheinen und ist zum aktuellen Zeitpunkt wohl müßige Spekulation. Wichtig ist aber festzustellen, dass in diesem Szenario der Prozess des Auseinanderbrechens der Föderation mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der Tagesordnung stehen würde. Hinzu kommt, dass ein Sturz Putins höchstwahrscheinlich den schnellen Sturz des belarussischen Machthabers Lukaschenko nach sich ziehen würde.

Die große Frage wäre, wie Russland ohne die von ihm kolonisierten Gebiete dastehen würde. Es wäre immer noch ein flächenmäßig großes Land mit einer Bevölkerung von etwa 100 Millionen. Russland befände sich in einer ähnlichen Situation wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg (obwohl es von niemandem besetzt wäre), was in der Folge ein neues, zutiefst gesellschaftlich geprägtes Selbstbewusstsein und historische Erkenntnisse (z. B. über die Beziehungen zur Ukraine, den Slawismus, die Orthodoxie) hervorbringen würde.

Szenarien einer russischen Niederlage (derzeit natürlich nur höchst hypothetisch) würden dann auch grundlegende Veränderungen in der Weltpolitik bedeuten. Ein geschwächtes Russland wäre zwischen China, den Vereinigten Staaten und dem gesamten Westen isoliert. Man kann nur vermuten, dass sich Moskau in dieser Situation eher dem Westen zuwenden würde. Ein Festhalten an der chinesischen oder asiatischen Option würde Russland in völlige Abhängigkeit bringen und jeder Möglichkeit zur Reform berauben. Nur eine Hinwendung zum Westen könnte es ermöglichen, auf den Pfad einer Entwicklung zurückzukehren. Die Frage wäre in dieser Situation, welche Bedingungen der Westen Russland auferlegen würde. Ein Beispiel: die „Delegitimierung” Russlands, so wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg entnazifiziert wurde. 

Das Auseinanderbrechen der Föderation brächte auch enorme politische Herausforderungen in Nordasien und rund um das Kaspische Meer und den Kaukasus mit sich. Es entstünde eine völlig neue Situation in den amerikanisch-chinesischen Beziehungen, in der neue politische Formationen in Sibirien zu Partnern würden.



Kategorie:"IN WEB SCRIBIS" DEUTSCH, Russia, Russland, Ukraina

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1 replies

  1. Polska następny cel jeśli mordercy nie pojamają!

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